Universität ehrt Bundesrichterin der SP Bezirk Meilen

Geboren 1944 im von den Nationalsozialisten besetzten Budapest, wurde Vera Rottenberg Liatowitsch 50 Jahre später zur ersten jüdischen Bundesrichterin der Schweiz gewählt. Nun verleiht ihr die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich die Ehrendoktorwürde.
Der Artikel darüber ist aus der NZZ und geschrieben von Kathrin Alder.

Dramatischer kann man kaum ins Leben starten als Vera Rottenberg Liatowitsch, die erste jüdische Bundesrichterin der Schweiz. Geboren wurde sie am 15. August 1944 im von den Nationalsozialisten besetzten Budapest – als Tochter einer St. Galler Jüdin, die einen ungarischen Juden geheiratet hatte. Nur zwei Stunden nach ihrer Geburt ertönte ein Fliegeralarm, Bomben schlugen in unmittelbarer Nähe des Spitals ein. Wegen der heftigen Erschütterung fiel ein Stück der Zimmerdecke genau in den Korb, in dem die Neugeborene lag. Wie durch ein Wunder blieb sie unverletzt. Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits in ein Arbeitslager deportiert worden.

 

Ihre Mutter Berta fürchtete dasselbe Schicksal und bemühte sich intensiv um eine Ausreise. Sie sprach mehrmals bei der Schweizer Gesandtschaft vor, blieb aber erfolglos, weil sie durch die Heirat das Schweizer Bürgerrecht verloren hatte – die sogenannte Ausheirat galt damals als staatsgefährdend. Erst dank der Hilfe des Berner Diplomaten Harald Feller, der mit der Vertretung schweizerischer Juden in Ungarn betraut war, konnten die Mutter und ihre Töchter Budapest im Oktober 1944 in Richtung Schweiz verlassen. Die Reise führte über Wien.

Bereits einen Tag später kamen Berta Rottenberg mit ihren Töchtern glücklich in St. Gallen an. 1946 konnte auch der Vater, der das Lager überlebt hatte, zu seiner Familie stossen. Vera Rottenberg Liatowitsch wuchs schliesslich in St. Gallen auf, absolvierte dort die Matura und wurde 1958 eingebürgert.

 

Steile juristische Karriere
Ihre frühe Kindheit möchte sie eigentlich nicht so sehr ins Zentrum rücken, sagt Rottenberg Liatowitsch bei einem Besuch in ihrer sonnendurchfluteten Wohnung in Zollikon. Doch ihr Start ins Leben und später das Aufwachsen als Flüchtlingskind haben sie geprägt. Als Richterin habe sie deshalb immer auch versucht, strukturelle Ungleichgewichte auszutarieren. Für ihre juristischen Verdienste verleiht ihr die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich nun die Ehrendoktorwürde. Selbstverständlich freut sich die 73-Jährige darüber. Ein wenig aber wundert sie sich auch. Mit Koketterie hat das nichts zu tun, sondern mit Bescheidenheit. Nie hat sie ihre Karriere als selbstverständlich empfunden: «Es hätte auch ganz anders kommen können», sagt sie lakonisch. Das Leben lasse sich nicht planen.

1963 begann sie, in Zürich Rechtswissenschaften zu studieren, sie zog weg aus St. Gallen, wollte etwas Neues sehen. «Zum Glück konnte man damals in St. Gallen noch nicht Recht studieren», sagt sie lachend. Dass sie Juristin werden wollte, war indes lange unklar, zu breit waren ihre Interessen. Sie habe sich oft in andere Vorlesungen gesetzt, etwa zu den Philosophen. «Wie die argumentiert und diskutiert haben, das hat mich beeindruckt.» Dennoch schlug sie schliesslich eine klassische juristische Laufbahn ein und kletterte die Karriereleiter hoch – in einer Zeit, als dies für Frauen alles andere als üblich war.

 

«Frau, links, jüdisch»
Rottenberg Liatowitsch doktorierte 1972, erwarb das Anwaltspatent, trat in die SP ein. Ab 1973, drei Jahre nachdem im Kanton Zürich erstmals Frauen als Richterinnen zugelassen worden waren, arbeitete sie als juristische Sekretärin am Bezirksgericht und Obergericht in Zürich. 1981 wurde sie ordentliche Bezirksrichterin, 1990 Zürcher Oberrichterin der Strafkammer – als einzige Frau. Nur vier Jahre später wählte sie die Vereinigte Bundesversammlung zur Bundesrichterin, obwohl sie mit den «drei denkbar schlechtesten Voraussetzungen» angetreten war, wie sie bemerkt: «Frau, links, jüdisch».

 

Natürlich sei sie zeitweise angeeckt. «Für gewisse Leute war ich ein rotes Tuch. Ich war es gewohnt, auf Widerstände zu treffen und oft die einzige Frau zu sein», sagt Rottenberg Liatowitsch. Benachteiligt habe sie sich aber nie gefühlt; allenfalls habe man sie zu Beginn ihrer Karriere etwas genauer beobachtet als einen männlichen Kollegen. Gestört hat sie das nie. Und sie habe auch nie versucht, männliche karrieristische Verhaltensmuster zu übernehmen. Aus Machtkämpfen habe sie sich herausgehalten, einfach weiter ihre Arbeit erledigt, die sie zeitweise derart beanspruchte, dass für anderes kaum Zeit blieb. «Für mich war das Amt der Richterin nicht einfach ein Job, sondern Leidenschaft.»

 

Mit ihren Urteilen sei sie am Bundesgericht oft allein auf weiter Flur gewesen. Als Beispiel nennt sie den Asbest-Fall. Ein Fünfergremium hatte zu entscheiden, ob die Klage eines Asbestopfers bei Einreichung bereits verjährt sei. Rottenberg Liatowitsch sprach sich als Einzige dafür aus, den Lauf der Verjährung wegen der langen Inkubationszeit der Asbest-Schädigungen erst bei Kenntnis des Schadens beginnen zu lassen. Damit fand sie bei ihren Kollegen kein Gehör. Doch der Fall wurde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen, und dort stützten die Richter Rottenberg Liatowitschs Sicht: Asbestopfern eine Haftungsklage praktisch immer zu verunmöglichen, verletzte namentlich das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention. Noch heute freut sie sich über diesen Entscheid. Sie habe als Richterin immer versucht, so zu entschieden, dass ihr Handeln zugleich allgemeiner Leitfaden für alle sein konnte. Kants kategorischer Imperativ diente ihr als Maxime, auch wenn sie am Ende juristisch entscheiden musste.

 

Endlich Zeit für die Geige
Der Asbest-Fall lag ihr aber auch thematisch, Haftpflichtrecht, das habe sie besonders fasziniert. Auch in diesem Bereich prägte sie einige Grundsatzentscheide des Bundesgerichts. Am wichtigsten sei ihr bei der Arbeit aber immer die Unabhängigkeit gewesen. Richter werden von politischen Parteien portiert, ihre Amtszeit ist begrenzt, danach müssen sie sich wieder zur Wahl stellen. «Die SP hat nie versucht, Druck auf mich auszuüben. Kein einziges Mal musste ich während meiner Karriere politisch Rücksicht nehmen», sagt sie. Dennoch diagnostiziert sie heute, mit einigen Jahren Distanz, eine Verpolitisierung der Justiz: «Das ist sehr gefährlich. Fliessen politische Überlegungen in einen Entscheid ein, findet unabhängig vom Ergebnis ein sachfremdes Element Eingang in die Rechtsprechung. Das schränkt die richterliche Unabhängigkeit ein.» Die Rechtsprechung habe in einem Staat eine enorm wichtige Rolle, die nicht geschwächt werden dürfe. «Die Justiz sorgt dafür, dass der Bürger gut schlafen kann.»

 

Seit Ende 2012 ist Vera Rottenberg Liatowitsch pensioniert. Sie ist für verschiedene Stiftungen tätig, etwa für die Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist ihr weiterhin wichtig. Auf kommunaler Ebene hat sie sich kürzlich gegen den Verkauf des ehemaligen Altersheims am See gewehrt – und bekam schliesslich von ihren ehemaligen Kollegen am Bundesgericht recht. Geplant war das alles freilich nicht. Rottenberg Liatowitsch zeigt ins Nebenzimmer, auf einen Geigenkasten. «Das ist das Einzige, was ich mir wirklich fest vorgenommen habe. Während meiner Pension wieder mehr Geige zu spielen.»